Der Islam und der Feudalismus

Vor kurzem [1] kam mir zu Ohren, dass ein Student der Universität eine wissenschaftliche Studie vorlegte, in der er beweist, dass der Islam ein feudalistisches System ist, und dass der Besagte dadurch den Magistergrad erlangte! Ich war über die Meinung der Professoren noch weitaus mehr erstaunt als über die des Studenten, denn dieser mag unwissend sein oder schlechte Absichten verfolgen. Wie ist es jedoch möglich, dass Universitätsprofessoren, die die Elite der Wissenschaft darstellen und über ein fundiertes geschichtliches Wissen verfügen sollten, im Verständnis von sozio-ökonomische Verhältnissen und Systemen auf ein derart niedriges Niveau sinken können?
Meine Verwunderung legte sich jedoch sehr bald wieder, als ich mich daran erinnerte, aus welcher Schule diese "hervorragenden" Wissenschaftler kamen. Sie waren es. die der bedauernswerten Generation entstammten, die nach der westlichen Fasson erzogen wurden, und die speziell dafür nach Europa geschickt wurden, um "ihr Wissen zu erweitern", wie es hieß.
Nun, ehrenwerte Wissenschaftler, was ist der Feudalismus wirklich, und was sind seine Eigenschaften?
Ich will hier eine Definition zitieren, die ich dem Buch "An-Nizham Al-Ischtiraki" ("Das sozialistische System") von Dr. Raschid AI-Barawi entnommen habe: "Der Feudalismus ist die Bezeichnung für eine Art der Produktion, der auf der andauernden Leibeigenschaft (engl.: Serfdom) besteht. In diesem System ist der eigentliche Produzent seinem Herrn verpflichtet, ihm bestimmte wirtschaftliche Forderungen zu erfüllen, die entweder in Form von Diensten, oder durch Bezahlung mit Geld oder Naturalien geleistet werden." Um dies alles noch etwas näher zu erklären, kann man sagen, dass das feudalistische System sich in zwei Klassen aufteilte: Die erste, die sich aus den Großgrundbesitzern zusammensetzte, und die zweite Klasse derjenigen, die das Land bebauten, und die je nach ihrer Tätigkeit in verschiedene Lohnklassen aufgeteilt waren. So gab es Bauern. Knechte und Landarbeiter.
Die Bauern waren die eigentlichen Produzenten, denen das Recht auf ein Fleckchen Erde gegeben war. auf das sich ihr gesamter Lebensunterhalt begründete. Ebenso betrieben sie in ihren Häusern einfache Handwerksarbeit, die mit der Landwirtschaft in Zusammenhang stand. Als Gegenleistung dafür mussten sie vielerlei Dienstleistungen vollbringen, wie z.B. den Grund und Boden der Herrschaft mit ihren Geräten und ihrem Vieh bebauen, außerdem waren sie während der Erntezeit zu zusätzlichen Arbeiten verpflichtet, so wie sie auch bei den verschiedenen Festen und feierlichen Anlässen der Herrschaft Geschenke darbieten mussten. Zusätzlich waren sie verpflichtet, die Mühlen oder Pressen des Gutsbesitzers zu benutzen, wofür jener natürlichen Bezahlung verlangte. Dem Gutsherrn oblag außerdem die Gerichtsbarkeit, das heißt, er verwaltete das gesamte gesellschaftspolitische Lebenssystem seiner Untertanen.
"...Außerdem erfreute sich dieser eigentliche Produzent im feudalistischen System nicht der "Freiheit" im heutigen Verständnis des Wortes, denn ihm gehörte eigentlich nicht wirklich der Boden, von dem er lebte, da er in keiner Weise das Recht hatte, darüber zu verfügen, sei es durch Verkauf, Vererbung oder Schenkung. Trotzdem er seinen eigenen Vorteil dabei oft in den Hintergrund stellen musste, hatte er für den Boden, der seiner Herrschaft gehörte, harte Arbeit zu leisten. Zusätzlich hatte er seinem Herrn auch Steuern zu bezahlen, deren Höhe keine Grenzen kannte. Dadurch bekannte sich der Leibeigene zu seiner ihm zugeschriebenen Natur, und er musste es auf sich nehmen, samt dem Grundbesitz weitergegeben zu werden, wie es den Feudalherren gefiel. Er besaß außerdem kein Recht dazu, seinen Arbeitsplatz zu verlassen oder unter einem anderen Herrn zu dienen. Der Leibeigene nimmt also die Mittelstellung zwischen dem Sklaven in alter Zeit und dem freien Bauern in der neuen Zeil ein."
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Der Grundbesitzer bestimmte die Größe der Bodenfläche, die er dem Bauern überließ, um sie für seine eigenen Zwecke zu bebauen. Er setzte auch das Maß der übrigen Dienstleistungen fest, die er vom Pächter verlangte, und jeder der Feudalherren war in seinen Entscheidungen und Bestimmungen völlig frei und unabhängig. Im Allgemeinen nahm er auch auf die Forderungen und Nöte seiner Leibeigenen keine Rücksicht. Al-Barawi führt weiter aus, dass im 13. Jahrhundert die Bauern immer öfter versuchten, aus ihrer bedrückenden Lage zu entfliehen, und es setzte die sogenannte "Bauernflucht" ein. Die Adeligen beantworteten dies, indem sie sich untereinander verbündeten, so dass jeder Bauer, egal auf wessen Grundstück er angetroffen wurde, zu ergreifen und gefangen zu nehmen war. Was die Adeligen beunruhigte, war, dass dies eine allgemeine Erscheinung geworden war, und sie um ihre eigene Abhängigkeit von diesen Arbeitskräften wussten. Ihre Bemühungen, die allen Zustände wiederherzustellen, scheuerten schließlich, und so waren sie gezwungen, nach einer anderen Lösung zu suchen. Man bot den Leibeigenen die Möglichkeit, sich aus dem Frondienst loskaufen zu können und auf diese Weise ihre Leibeigenschaft beenden zu können.
Vielen der Bauern gelang es sodann, die Not der adeligen Feudalherren auszunutzen und sich ihre persönliche Freiheit zu erwerben. Diese Entwicklungen blieben zwar nicht vorherrschend bis ins 14. Jahrhundert, aber das Entscheidende daran ist, dass der Zusammenbruch der feudalistischen Gesellschaft begonnen hatte, und er sich in den darauffolgenden Jahrhunderten fortsetzte.[2]
Dies sind die wesentlichen kennzeichnenden Punkte des Feudalsystems, die wir im Detail beschrieben haben, um jedes Missverständnis oder jede Verwechslung mit anderen Begriffen und Systemen zu verhindern. Nun lautet meine Frage: Wo und wann finden sich diese Elemente im Islam?
Ich nehme an, dass jene "Wissenschaftler" die Feudalwirtschaft mit einer Entwicklung der islamischen Gesellschaft verwechseln, die zu einer Aufteilung zwischen Landgutbesitzern und Bauern führte, die diese Ländereien bewirtschafteten. Dies ist jedoch eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise, die nicht durch Fakten begründbar ist. Um näher darauf einzugehen kehren wir zu den kennzeichnenden Faktoren der Leibeigenschaft zurück, um sie Punkt für Punkt mit dem zu vergleichen, was in der islamischen Gesellschaft passierte.
- Die andauernde Leibeigenschaft (engl: Serfdom)
- Die Verpflichtungen, die der Bauer gegenüber seinem Herren übernehmen musste, und die bestanden aus:
- a) Unbezahlter Zwangsarbeit auf dem Grund und Boden des Herrn einen Tag in der Woche,
- b) Frondienst während der Erntezeiten,
- c) er Abgabe von Geschenken zu verschiedenen Festtagen und feierlichen Anlässen (Es ist dabei besonders zu bemerken, dass der Arme dem Reichen etwas schenken musste!),
- d) dem Mahlen des Kornes in den Mühlen des Grundherrn (wobei wir das Pressen der Weintrauben hier übergehen wollen, da Alkohol im Islam verboten ist).
- Das Recht des Adeligen, nach seinem eigenen Ermessen das Ausmaß der Grundfläche zu bestimmen, die der Leibeigene für sich zugesprochen bekam.
Außerdem setzte er alleine fest, welche Arbeiten und Steuern zu leisten waren.
- Die Ausübung der alleinigen Gerichtsbarkeil durch den Adeligen, der je nach seiner Laune und seinem Gutdünken über die Leibeigenen verfügen konnte, da es kein allgemeingültiges Gesetz gab
- Der Zwang, dass die Bauern sich ihre Freiheit erkaufen mussten, als dieses System ins Wanken geriet.
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Nun, nach diesen Ausführungen, steht jedem der Weg offen, in der islamischen Geschichte nach einem solchen System zu suchen!
Was die fortdauernde Leibeigenschaft anbelangt, so kennt und kannte der Islam außerhalb der Einrichtung der Sklaverei einen solchen Gedanken überhaupt nicht, und was die Gründe und Ursachen bzw. die Möglichkeiten der Befreiung waren, das haben wir zur Genüge im vorangegangenen Kapitel behandelt. Fest steht, dass im Islam eine Leibeigenschaft in Bezug auf Grund und Boden nicht existiert. Die Sklaven, die durch den Krieg gewonnen wurden und. jedenfalls im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, eine Minderheil waren, arbeiteten für ihre Herren im Landbau, falls sie nicht freigelassen wurden oder sich durch die Mukataba ihre Freiheit erwerben wollten. Es gibt aber hier einen Bedeutungsunterschied, da mit den Leibeigenen sowohl Bauern als auch sämtliches anderes Arbeitspersonal gemeint war. die dem Grund und Boden "gehörten", und nicht wie die Sklaven, einem Herrn. Sie besaßen weder das Recht, diesen Boden zu verlassen, noch sich von den Pflichten, die ihnen auferlegt waren, zu befreien.
Diese Art der Sklaverei bzw. Leibeigenschaft gab es im Islam tatsachlich nicht, da es grundsätzlich nur eine wirkliche Abhängigkeit geben kann, nämlich die gegenüber Gott, dem Schöpfer des Lebens. Der Gedanke, von einem Geschöpf Allahs besessen zu werden, wild vom Islam grundsätzlich abgelehnt. Wenn es diese Erscheinung in dci Sklaverei vorübergehend gegeben hatte, so nur. weil sie eine unumgängliche Notwendigkeit gewesen war. deren Wurzeln man zu vernichten trachtete, und bei der der Staat selbst alles unternommen hatte, Hilfestellung und Unterstützung in jeder Weise zu geben
Außerdem begründete der Islam niemals seine Ökonomie auf dem System der Anhängigkeit eines Menschen gegenüber einem anderen. Wie wir bereits wiederholt darstellten, gab es für die Sklaverei keinerlei wirtschaftliche Notwendigkeit, und daher tat der Islam und der islamische Staat alles dazu, diese Sklaven zu selbständigen Individuen zu erziehen, so dass sie für ihr eigenes Dasein verantwortlich sein konnten.
Der Islam begründet sein System auf der Freiheit der Arbeit, auf der Zusammenarbeit und auf der gegenseitigen Unterstützung aller. Der Staat ist jedoch stets präsent, um helfend einzuspringen, falls jemand aus irgendeinem Grund nicht fähig zur Arbeit ist. Wenn also der Schutz des Staates stets vorhanden ist und für jeden offen steht, gibt es keinerlei Anlass, dass sich jemand einem anderen oder dem Grundbesitz zum Sklaven macht, da er seine Freiheit und die Erfüllung der Grundanforderungen des Lebens auf andere Weise besitzt.
Was das Verhältnis von Bauer und Grundbesitzer anbelangt, so kannte der Islam jene Verpflichtungen des Frondienstes und andere überhaupt nicht. Die Beziehung, die zwischen dem Bauern und dem Besitzer des Landes bestand, war die der Pacht bzw. die der Muzari'a, d.h. ein zeitlich begrenzter Pachtvertrag gegen einen prozentualen Anteil am Ackerland. Im ersten Fall mietet der Bauer je nach seinem Vermögen und seinen Möglichkeiten ein Stück Land. Er ist frei anzubauen, was er will, so wie auch die Ernte und die Ausgaben für den Landbau ihm überlassen sind.
Im zweiten Fall ist der Bauer Teilhaber des Grundbesitzers, wobei dieser für die Ausgaben aufkommen muss. während der andere durch seine Arbeitskraft seinen Anteil für das Ackerland leistet. Die Gewinne aus der Ernte werden am Ende des Jahres geteilt.
In beiden Fällen gibt es weder zwingende Verpflichtungen noch kostenlose Dienstleistungen des Bauern gegenüber dem Grundbesitzer. Die Pflichten, Freiheiten und Rechte sind vielmehr auf beide Seiten aufgeteilt. Es ist dem Bauern frei überlassen, sich das Ackerland oder den Grundbesitzer, dessen Teilhaber er werden will, auszusuchen. Er ist außerdem frei in seinen Verhandlungen mit dem Grundbesitzer über die Höhe der Pacht. Wenn das Angebot nicht gewinnbringend für ihn wirkt, so kann niemand ihn zwingen, trotzdem für diesen Mann zu arbeiten. Ebenso verhält es sich in der Muzari'a, wenn der Bauer der Meinung ist, dass das Verhältnis seiner Arbeit nicht im Einklang mit der Leistung des Landbesitzers steht. Es ist auch nicht wie im Feudalsystem üblich, dass der reiche Grundbesitzer vom armen Bauern beschenkt wird. Im Gegenteil dazu sieht der Islam es als Pflicht des Reichen, den Armen zu beschenken und zu unterstützen. Dies ist besonders im Ramadan der Fall, der bei den Muslimen eine ganz besondere Stellung genießt, und in dem sich die Verwandtschafts- und Freundesbande besonders fest verknüpfen und bestätigen sollen. Diese Verhaltensweise entspringt auch dem natürlichen und logischen Verständnis des menschlichen Verhaltens.
Das geerntete Korn wird nach altem islamischen Brauch von den Armen in den Mühlen gemahlen, denen diese Aufgabe überantwortet wurde, um sich aus dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es obliegt in keiner Weise dem Grundbesitzer, die Verwendung seiner Mühlen den Bauern aufzuwingen.
Im Islam wurde also eine freiheitliche Beziehung aufgebaut, die sich auf der gegenseitigen Achtung und der völligen Gleichberechtigung der menschlichen Ehre begründete. Was den Schutz anbelangt, den der feudalistische Grundherr seinen Untertanen gewahrte, so mussten die Bauern diesen "Dienst" mit völliger Abhängigkeit und Unterdrückung bezahlen. Im Islam hingegen übernahmen die Grundbesitzer diese Tätigkeiten selbstverständlich und freiwillig, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung erwarteten, denn sie taten dies alles, um Allah dadurch näher zu kommen und Ihm zu dienen. Dies ist der gewaltige Unterschied zwischen einem System, das auf dem Glauben an Gott beruht, und einem System, das außerhalb des Glaubens errichtet wird. Im ersteren werden alle sozialen Dienstleistungen zum Gottesdienst, während sie in: letzteren nur noch eine Angelegenheit von Gewinn und Verlust sind, bei der jeder darauf achtet, möglichst wenig zu bezahlen und möglichst viel zu erlangen, und so gehört das Recht schließlich dem Stärkeren, anstatt dem Gerechten.
Der nächste Punkt in der Liste der Kennzeichen des Feudalsystems ist der. dass es dem adeligen Grundbesitzer überlassen war, wieviel Landfläche er dem Leibeigenen gewährte, bzw. die Festsetzung des Ausmaßes und der Art des Frondienstes. Diese beiden Elemente finden sich nun schon gar nicht im Islam, dessen System sich auf völlig anderen Grundelementen aufbaut, als denen der Herrschaft des Adeligen über den leibeigenen Bauern. Die Größe des Landstriches, den der muslimische Bauer zu pachten wünscht, bestimmt <r selbst frei nach seinen Möglichkeiten, während die Arbeit, die er leistet, von ihm und für sich selbst ist. Die Aufgabe des Landbesitzers ist einzig und allein die Festsetzung der Höhe der zu zahlenden Pacht. In der Muzari'a hingegen entspricht das Ausmaß der zu bearbeitenden Ackerfläche der Anzahl der dem Bauern zur Verfügung stehenden Hände (zumeist die seiner Familie) und seiner eigenen körperlichen Fähigkeiten. Die Arbeit, die von ihm verlangt wird, ist jene, die benötigt wird, um aus dem Boden den entsprechenden Ertrag zu erbringen, an dem er selbst ja seinen gleichberechtigten Anteil hat. Was die übrige Ackerfläche des Grundbesitzers anbelangt, so hat sie mit dem Vertrag zwischen Besitzer und Bauer nicht das Geringste zu tun, und natürlich ist er in keinster Weise dazu verpflichtet, auf ihr zu arbeiten.
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Der wichtigste Punkt, in dem sich das feudalistische System vom Islam unterscheidet, ist jedoch der der Ausübung der unbedingten Gerichtsbarkeit des Feudalherrn über seine abhängigen Untertanen, und seine Lenkung ihres sozialen und politischen Lebens.
In den europäischen Staaten existierte zu dieser Zeit noch nicht einmal eine umfassende Gesetzgebung, die dem allgemeinen Verständnis von Gesetz gerecht geworden wäre. Das römische Recht, das später die Grundlage der europäischen Gesetzgebung wurde, gab den Feudalherren das Recht, ihr ihnen abhängiges Volk zu regieren und zu richten, wie es ihnen angemessen erschien, also nach persönlichem Gutdünken. Es handelte sich sozusagen um einen Kleinstaat im Staat, in dem sich die Regierung nicht einmischen konnte.
Im Islam sah dies völlig anders aus, da das allgemeine Recht von einer zentralen Regierung ausging, die dessen Befolgung im gesamten Staatsbereich überwachte. Zu diesem Zweck wurden Gerichtshöfe eingerichtet mit spezifischen Wirkungsbereichen, denen wiederum entsprechend ausgebildete Richter zugewiesen wurden, die in der Rechtsprechung völlig unabhängig waren (ausgenommen Irrtümer oder persönliches Fehlverhalten). Was sich bis zur heutigen Zeit verändert hat, ist das Bild der Regierung, denn sie nahm den Charakter einer vererbbaren Monarchie an, die nicht mehr durch einen frei zu leistenden Eid der Untertanen bestätigt werden musste. Was jedoch bis heute blieb, ist das Rechtssystem, bei dem die Regierung sich um alle seine wesentlichen und unwesentlichen Teile annimmt. Es sind noch immer die allgemein gültigen Gesetze, nach denen die Menschen richten und gerichtet werden. Vielleicht gibt es zwischen den Auslegungen der einzelnen Rechtsgelehrten Unterschiede, doch auch diese haben gewisse Grenzen. Entscheidend ist, dass der Landbesitzer keinen spezifischen Willen in dieser Hinsicht kundtun kann. Er hat sich nach der Leitung Gottes und nach Seinem Gesetz zu richten, das auf alle Menschen gleich, ohne Unterschied auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsklasse, angewandt wurde. Dies gilt nicht nur im Fall von Grundbesitzer und Bauer, die ja beide als freie Männer gelten, sondern auch im Fall Sklave und Besitzer, und selbst wenn es sich um König und Untertan handelt.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass es Fälle gab, in denen Richter nicht nach dem Gesetz oder nach ihrem besten Wissen und Gewissen richteten, sondern ihren eigenen Interessen oder denen eines reichen, wichtigen Mannes dienten. Solche Fälle können aber nicht als Allgemeinzustand betrachtet werden, denn selbst die europäischen Geschichtsschreiber bekennen, dass dies Ausnahmefälle waren. Es kann auch nicht angehen, nur solche Fälle zu zitieren, und alle anderen, die beispiellos in der Geschichte der Menschheit dastehen, außer Acht zu lassen. So z.B. als ein Richter für den Armen und gegen die Interessen des Reichen und Mächtigen entschied. Dieser Reiche war nicht ein Grundbesitzer oder Minister, nein es war der Sultan persönlich, gegen den er das Urteil fällte. Der Richter wurde weder seines Amtes enthoben, noch rächte sich der Sultan an dem Richter in anderer Weise!
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In der islamischen Welt gab es niemals eine ähnliche Erscheinung wie die Bauernflucht der europäischen Feudalzeit. Die Bauern waren ja Heren ihrer selbst und konnten nicht nur von einem Grundherrn zum anderen ziehen, sondern überhaupt von einem Land ins andere wechseln, so oft sie wollten und wie weit es ihnen beliebte. Die einzige Gewalt, die sie an einem bestimmten Flecken Erde festhalten konnte, war ihr eigener Wille und ihre eigene Liebe zu diesem Landstrich. So war es immer schon eine Eigenschaft der ägyptischen Bauern, eher sesshaft und wenig wanderlustig zu sein. Andere jedoch waren nicht so sehr auf ein bestimmtes Land fixiert und reisten fleißiger umher, wobei ihnen keine Gewalt im Wege stand, die sie daran gehindert hätte.
Es versteht sich von selbst, dass islamische Bauern sich niemals loskaufen mussten, da sie ja tatsächlich freie Menschen waren.
Es ist außerdem erwähnenswert, dass es in islamischen Ländern eine große Anzahl von kleineren Ländereien gab, die deren Besitzer neben ihrer Arbeit im Handel zu See oder zu Land, oder in den verschiedenen Gewerben, die damals bekannt waren, bewirtschafteten, um daraus ihren Eigenverbrauch zu decken. Dies hinterlässt freilich ein völlig anderes Bild, als das der dunklen Feudalzeit des europäischen Mittelalters, aus dem sie erst durch ihre Berührung mit dem Islam während der Kreuzzüge bzw. während der Zeit der Muslime in Andalusien erwachten.
Aus all dem, was wir bis jetzt angeführt haben, lässt sich leicht ersehen, dass es kein feudalistisches System gab, solange der Islam die Länder regierte, denn sein ideologisches, ökonomisches und juristisches System erlaubten solche Auswüchse gar nicht. Selbst die beginnenden feudalistischen Entwicklungen zur Zeit der Umayyaden und Abbasiden waren noch sehr begrenzt und besaßen noch nicht den Charakter eines vorherrschenden Phänomens. Tatsächliche Leibeigenschaft in islamischen Ländern findet man erst während der späten Zeit der Osmanen, als die Religion ihren Einfluss auf die Seelen der Menschen bereits verloren hatte, und der Islam nur noch als Bezeichnung gekannt wurde. Dies ist die Zeit der osmanischen Paschas, deren bekannteste Gestalt Muhammad Ali der Große war, und der anderen ähnlich ausgerichteten Königshäuser der islamischen Welt. Diese Tendenz zur Religionsentfremdung wurde noch durch die imperialistischen europäischen Mächte verstärkt, die den Orient besetzten und den letzten noch verbliebenen Geist der Frömmigkeit und des Verantwortungsbewusstseins für die Gemeinschaft vernichteten. Die Reichen nützten nun schamlos die Armen aus und versetzten sie mit Hilfe der Untersuchungsbehörden des Königshauses und der Fürsten in erniedrigende Abhängigkeit und Angst. Bis heute lebt diese Art der Leibeigenschaft in unseren Landen, aber sie hat ihren Ursprung nicht im Islam, er ist nicht verantwortlich dafür, so wie er es auch nicht war, als er noch in unserem Land regierte. Heute regieren die europäischen Gesetze, die Schüler des Westens ins Land brachten, und an denen sie in der Abhängigkeit von Leibeigenen festhängen und die feudalistische Tradition fortführen!
* * *
Am Ende unserer Ausführungen können wir nun einiges zusammenfassend darstellen, was gerade in der heutigen Welt der gegensätzlichen Prinzipien und Ideologien immer wieder Verwirrung schafft:
1.) Es ist weder der Besitz, der die Menschen hauptsächlich zur Leibeigenschaft fuhrt, noch ist es das Verlangen nach Eigentum. Es ist vielmehr die Natur der Beziehung zwischen Besitzendem und Nicht-Besitzendem, die entscheidend ist. Aus diesem Grund finden wir im Islam Besitzende, jedoch keinen Feudalismus, da die Natur der Beziehungen, die der Islam zwischen die Menschen setzt, die Abhängigkeit von Menschen untereinander nicht erlaubt.
2.) Der Grund für den europäischen Feudalismus ist nicht in der zwingenden wirtschaftlichen Situation zu suchen, oder etwa darin, dass man davon ausgeht, dass dies eine unvermeidliche Entwicklungsphase der Menschheit wäre, durch die sie auf jeden Fall hindurch müsste. Der wahre Grund liegt vielmehr in der nicht vorhanden gewesenen Religion, die die Menschen das Mitgefühl füreinander gelehrt hätte, und ihre Beziehungen zueinander geregelt hätte. Wäre ein solcher Glaube präsent gewesen, so hätte er die Entwicklung einer solch unmenschlichen Politik verhindert, selbst wenn die ökonomische Situation dazu gedrängt hätte.
3.) Die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse, wie sie die kommunistische Theorie zeichnet, nämlich in den Phasen von Urkommunismus. Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und Endkommunismus, trifft einzig auf die Geschichte des Westens zu und spiegelt nur die westliche Realität wider. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass der Rest der Welt diesen Weg zu gehen hätte oder ihn gehen wird. Denn wir haben gesehen, dass die islamische Welt darauf verzichten konnte, daher besteht auch keine Notwendigkeit für sie im Kommunismus zu enden!
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Von: Muhammad Qutb
Fußnoten
[1] Dieses Buch erschien in seiner Erstausgabe bereits im Jahre 1958
[2] vgl. dazu "An-Nizham Al-Ischliraki“ S. 22 bis 33